Haben wir denn keinen Anstand mehr?

Die neue Welt 2.0 wirft vieles aus der alten auf den Müllhaufen der Geschichte. Leider auch den Anstand – auch wenn das Wort so herrlich antiquiert klingt.

„Gute Sitte, schickliches Benehmen“, so definiert der Duden „Anstand“. Ein Bekannter schrieb mir neulich eine E-Mail und meinte, dass der Begriff seit 1968 ja eher negativ aufgefasst wird. Da sollten wir noch einmal drüber nachdenken. Ist es nicht der Präsident der Supermacht der USA, der sich öffentlich rühmt, man könne einer Frau einfach so in den Schritt greifen oder die Eigeninteressen über das Gemeinwohl stellen?

Wie sieht es hierzulande aus? Ich mag da gar nicht lange über politische Präferenzen sprechen oder wer mehr Dreck am Stecken hat oder - Hilfe, Kindergarten! - wer wann womit auch immer angefangen hat. Stellen wir uns einfach vor, wie es wäre, wenn uns die Politik und vor allem wir einander mit mehr Anstand begegnen würden. Etwa, dass sich politische Parteien selbst verpflichten, uns nicht vor der Wahl das Blaue vom Himmel zu erzählen, was sie nicht alles machen, nur um es dann doch nicht zu tun. Das würden Sie Ihrem Partner gegenüber doch auch nicht machen.

Oder im Internet. Holla, die Waldfee! Was sich da gegenseitig um die Ohren gehaut wird! Wie wäre es, wenn wir uns kurz vorm Senden vorstellen, dass das jetzt eine reale Person liest, mit emotionalen Reaktionen und Gefühlen. Würde dann so manches Posting entstehen? Auch das glaube ich nicht.

Ja, Anstand mag nach Mief, Biedermeier und „Lümmel nicht so beim Suppe essen“ klingen. Aber am Ende wäre doch eine Welt besser, in der wir diese alte Tugend öfters anwenden würden. Denn letztlich gibt es genug, was früher „in“ war, das man heute nicht mehr braucht. Wie etwa Wachstumswahn, Kolonialismus, Ausbeutung, Rassismus, gesetzliche Unterschiedlichkeiten bei den Menschenrechten.

Vermutlich ist es tatsächlich so, dass wir den Anstand in seiner reinen Form - Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andren zu! - wieder mehr hervorkehren. Einfach mal Empathie für das Umfeld zeigen, egal ob man im Internet postet, im Straßenverkehr unterwegs ist oder sich als Politiker der Wahl stellt. Will ich so behandelt werden, wie ich da andere behandle?

Ich frage mich wirklich und ehrlich, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn es mehr Menschen mit dem so verpönten Anstand gebe. Vermutlich wäre es eine bessere Welt.

Josef Zotter

Über: Josef Zotter

Chocolatier, Bio-Landwirt und Andersmacher. Josef Zotter ist gelernter Koch und Kellner, Konditormeister, war längere Zeit Koch und Küchenchef in verschiedenen Hotels der Luxusklasse unter anderem auch in New York. Josef Zotter ist verheiratet mit Ulrike Zotter und Vater von drei Kindern.

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